Mikroben, Pantoffeltierchen, Pit Bulls, Babykatzen, Sie und ich. Wir alle sind Lebewesen. Schon einmal darüber nachgedacht was es heißt ein „Lebe-Wesen“ zu sein? Autonomie und Grenzziehung gegenüber der Umwelt sind (neben anderen) Bedingungen für die Entstehung und den Erhalt jedes Lebens. Klingt kompliziert? Überlegen Sie einmal: Fühlen Sie sich lebendig, wenn sie überwiegend fremdbestimmt sind und nicht mehr wissen, ob Ihre Wünsche, Empfindungen, Gefühle, Gedanken oder sogar Handlungen von Ihnen stammen oder von jemanden anderen? Jaja, ich weiß – sehr philosophisch. Aber eben praktisch wichtig, denn es stellt sich die Frage: Darf ein Kind selbstbestimmt handeln und anderen seine Grenzen aufzeigen? Oder einfacher gefragt: Darf ein Kind lebendig sein?
In der Szene lernen wir Michael (37 Jahre) und Patrick (15 Jahre) kennen. Patricks Eltern sind getrennt und er verbringt jede zweite Woche das Wochenende (ab Freitagnachmittag) bei seinem Papa.
Michael hat für Patrick Pasta gekocht, denn heute muss es schnell gehen. Patrick hat an diesem Freitag lange Unterricht und kommt erst gegen 16 Uhr nach Hause, bereits eine Stunde später sind zwei Klavierstunden angesagt. Die sind diesmal wichtig, denn sie sind die letzten vor dem großen Konzert. Michael steht in der Küche, als er zuerst die Wohnungstüre, dann Patricks Zimmertüre knallen hört. Vor lauter Schreck fällt ihm beinahe die Salatschüssel aus der Hand. Michael geht sofort durch den Flur zu Patricks Zimmer. Dort bleibt er stehen, atmet tief durch und klopft an die Tür. „Patrick, was ist los? Kann ich reinkommen?“ fragt Michael. „Hau ab! Lasst mich verdammt noch mal alle in Ruhe!“ keift Patrick. „Ich weiß zwar nicht was los ist, aber komm erst mal runter. Lass mich kurz rein zu dir und uns reden, du musst ja dann auch wieder los zum Klavierunterricht.“ „Ich mach gar nichts! Und in diese beschissenen Klavierstunden gehe ich heute sicher auch nicht!“ „Okay, keine Ahnung was das soll, aber wenn du wirklich nicht willst, musst du nicht hin. Ich will nicht durch die Türe mit dir reden. Ich bin in der Küche und warte dort auf dich.“ Es dauert eine halbe Stunde bis Patrick sich beruhigt hat. Schlussendlich kommt er in die Küche zu seinem Papa. Sein Kopf ist rot und seine Augen verschwollen. Michael stellt ihm eine Schüssel Nudeln hin und setzt sich zu ihm. „Was ist los mit dir, Patrick? Du wirkst extrem aufgeregt und wütend!“ meint Michael. Patrick lässt seinen Kopf auf die Tischplatte sinken und murmelt: „Papa, mir wird das alles zu viel.“
Im ersten Teil „In Beziehung – Was sich Kinder von ihren Eltern wünschen“ geht es um die Bedürfnisse nach Anerkennung, Wichtigkeit und Solidarität. Diesmal widmen wir uns den Bedürfnissen nach Autonomie, Grenzen und Verlässlichkeit.
Autonomie: „Du kannst für dich entscheiden!“
„Patrick ist der Regisseur seines Lebens.“
Jedes Kind möchte selbst wählen und in seinem Leben entscheiden. Für Eltern ist das oft heikel, denn sie müssen abwägen wann bzw. wie viel Freiheit und Verantwortung sie ihrem Kind lassen. Michael respektiert Patricks spontane Entscheidung nicht in die Klavierstunde zu wollen. Michael gesteht Patrick zu, dass er sein Leben selbst gestaltet, auch wenn er anderer Meinung ist. Patrick ist der Regisseur seines Lebens – mit aller Freiheit und Verantwortung.
Grenzen: „Ich respektiere deine Grenzen!“
Patrick knallt mit den Türen und Michael fällt beinahe die Schüssel aus der Hand. Michael ist sicher ärgerlich, aber er respektiert Patricks Bereich und Grenzen. Er klopft an, stürmt nicht einfach ins Zimmer oder geht in den Angriff über. Patrick ist in seinen vier Wänden der Wohnung sicher und er kann bestimmen, wen er hereinlässt und wen nicht – er kann verbal seine Grenzen verteidigen. Michael fällt es manchmal ganz schön schwer in diesen Momenten im Gleichgewicht zu bleiben, aber er weiß: Es ist wichtig für seinen Sohn.
Verlässlichkeit: „Ich bleibe bei dir!“
Jetzt mal ehrlich: Patrick ist ganz schön ätzend zu seinem Papa. Michael ermöglicht seinem Sohn trotzdem wieder in Begegnung mit ihm zu gehen. Denn Patricks Stimmung und die damit entstehende Auseinandersetzung erschüttert die Basis ihrer Beziehung nicht – die beiden können sich anmotzen, anpatzen und anmachen. Patrick weiß, dass die Verbindung zu seinem Papa stabil und belastbar ist und bleibt.
„Er bestimmt wie weit sein Papa gehen darf – diesmal nur bis vor die Tür.“
Kinder können herausfordernd sein und ihren Eltern Grenzen aufzeigen. In der Szene bietet Michael seinem Sohn eine Reibungsfläche und respektiert gleichzeitig dessen Eigenständigkeit. Patrick ist verzweifelt, wütend, er tobt und traut sich all das seinem Papa zu zeigen. Patrick muss keine Angst haben angegriffen oder abgelehnt zu werden. Er bestimmt wie weit sein Papa gehen darf – diesmal nur bis vor die Tür. Dieser hält das aus: Er kann Patrick für den Moment den Abstand zugestehen und ihm damit die sprichwörtliche „Türe“ öffnen. Patrick kann sich selbst beruhigen und geht dann wieder in Kontakt mit seinem Vater. Er lernt so, dass man sich in engen Beziehungen zeigen, streiten und vor allem auch wieder versöhnen kann.
„Bekommen Kinder genug Respekt von ihren Eltern?“
Kennen Sie das? Viele Eltern fordern den „notwendigen“ Respekt von ihren Kindern. Drehen wir den Spieß einmal um: Bekommen Kinder genug Respekt von ihren Eltern? Häufig lautet die Antwort: Naja. Durften Sie als Kind (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) selbstständig wählen und handeln? Zum Beispiel darüber entscheiden, welche Kleidung sie tragen wollten, welches Spiel sie gerne spielen oder mitentscheiden auf welche Schule Sie gehen wollten? Ist Ihnen eine Grenze zugesprochen worden, die andere respektieren mussten? Haben Ihre Eltern gemerkt, wenn Sie Ruhe und Abstand gebraucht haben oder wurde ein klares „Nein“ respektiert? Haben Sie Konsequenzen befürchten müssen, wenn sie sich entgegen den Erwartungen Ihrer Eltern verhalten oder ihnen eine Grenze aufgezeigt haben? Solche Fragen provozieren oft frustrierende Antworten und schmerzliche Erinnerungen.
In der Praxis zeigt sich, dass viel Erlebtes nicht bewusst ist. So manche Erfahrungen zeigen sich vor allem in der Beziehungsgestaltung zu engen Bezugspersonen – zu Eltern, zu Partnern oder zu eigenen Kindern. In der Psychotherapie kann eine erste Ahnung entstehen, dass wichtige Beziehungen auch anders sein können. Eben nicht nur anstrengend und frustrierend, sondern vor allem geprägt von Anerkennung, Wichtigkeit, Solidarität, Autonomie, Respekt vor Grenzen und Verlässlichkeit. Ich wünsche Ihnen diese Erfahrung von ganzem Herzen!
Zum Weiterlesen:
Sachse, R. (2014). Persönlichkeitsstörungen verstehen: Zum Umgang mit schwierigen Klienten. Köln: Psychiatrie Verlag.