Nichts beruhigt mich wie ein paar Tage am Land, in der Natur. Eine Arbeitswoche bringt mich manchmal aus dem Gleichgewicht – da tut es gut Boden unter den Füßen zu spüren, Wurzeln zu schlagen. Diesmal ist Rasenmähen angesagt. Die Fläche mit der Größe eines halben Fußballfelds gleicht eher einer Steppe als einer Wiese. Nach den ersten drei Bahnen ächze ich mit der Maschine um die Wette. Eine Pause ist angesagt – ich setze mich hin, mein Blick wandert über den Grund. Mitten in der Steppe am Rand einer kleinen Betonfläche ragen grüne Blätter aus dem Erdboden. Sie schaukeln im Wind und ihre Wucht fällt auch aus dieser Entfernung auf. Ich kenne diese Pflanze – Armoracia rusticana, in meiner Heimat knapp: Kren. Mit einem Lächeln steigen Kindheitsszenen in mir hoch.
Grausam dieses Ding – braun, verschrumpelt, unappetitlich. Es fühlt sich rau an und riecht nach feuchter Erde. Wie ein zu dick geratener Zauberstab eines Bergweiberls, von dem mir meine Oma mit schauriger Stimme immer wieder erzählt. Mein Papa muss sich darum kümmern und den „Kren reißen“. Er fängt an das Ding zu häuten und zu zerreiben – in kleine Stückchen bis nur mehr ein Häufchen von ihm übrig ist. Mit Mut und Schweiß ringt damit und trotzdem: Er ist machtlos gegenüber der Magie, die jetzt ihren Anfang nimmt. Papa beginnt zu weinen, er verzerrt sein Gesicht und mit der Hand fährt er zum Kopf als hätte ihn der Blitz getroffen. Dabei ist er aber fröhlich, ihm kommt sogar ein freudiger Schrei aus. Was für eine Stärke und Kraft diese Wurzel hat, wenn sie Papa dazu bringt so komisch zu sein – es ist wirklich eine Zauberpflanze! Diese Knolle verlangt Abstand und ich gehe ihr aus dem Weg – ans andere Ende des Tischs. Ihr Geruch zischt mir entgegen – „Komm‘ mir ja nicht zu Nahe!“. Ich halte mir die Nase zu, verkneife die Augen und strecke die Zunge heraus. Gleichzeitig lockt sie: „Probiere mich doch!“. Darauf bin ich als Kind nur einmal reingefallen, danach bin ich sicher gewesen: Nur Erwachsenen können diese Zauberwurzel aushalten. Kren ist etwas besonders – Zaubermächte, Muskelkraft, Überwindung und Kontrollverlust. Kein Wunder, dass es ihn nicht jeden Tag gibt!
Führe mich in Versuchung
Jetzt lockt sie mich wieder. Ich stehe auf und gehe in die Richtung der Blätter. Die Krenwurze ist am Ansatz dick und fleischig, nach fünf Zentimetern verzweigt sie sich hastig. Beim Tasten kann ich kaum spüren wo sie endet und die Erde beginnt – sie sind schwer voneinander zu trennen. Hat sich der Boden an die Wurzel oder die Wurzel an den Boden angeschmiegt? Ich kann es nicht sagen. Mir scheint als wäre die Wurzel ein Kind des Grunds – so fett und saftig wie die Erde selbst.
„…bereit um nächstes Jahr mit voller Kraft auszutreiben und aufzublühen.“
Mit einem Messer schneide ich den oberen Teil ab, der Geruch sticht mir scharf in die Nase. Auch wenn das Wurzelstück scheinbar leblos vor mir liegt, weiß ich: Das ist nur ein winziger Teil der Pflanze, der größere schlummert noch immer friedlich im Finstern – bereit um nächstes Jahr mit voller Kraft auszutreiben und aufzublühen. Wenn man so fest verwurzelt ist, dann hält man vieles besser aus. Was muss das für ein Erleben sein, so stabil mit seiner Umwelt verbunden zu sein? Das bleibt letztlich das Geheimnis der Pflanze, aber vielleicht hilft folgende Übung eine Ahnung davon zu bekommen.
Tief verwurzelt wie der Kren
Ich suche mir einen Schattenplatz und ziehe meine Schuhe und Socken aus. Dann finde ich einen angenehmen, stabilen Stand: Für mich heißt das, die Füße stehen etwa schulterbreit parallel zu einander. Die Zehen drehe ich sachte nach innen, die Knie beuge ich leicht. Meine Aufmerksamkeit richtet sich immer mehr nach innen. Mein Körper steht.
Mit jedem Einatmen ziehe ich meine Zehen nach oben, mit jedem Ausatmen setzte ich sie am Boden zurück. Meine Zehen krallen sich jedes Mal ein wenig in die Wiese.
Nach einigen Atemzügen versuche ich etwas Neues: Ich ziehe bei jedem Einatmen die Fersen nach oben und mit jedem Ausatmen kehren sie zum Boden zurück. So hinterlasse ich bei jedem Aufsetzen einen leichten Abdruck. Die Bewegungen folgen meinem Atemrhythmus.
Schlussendlich verbinde ich beide Bewegungen im Wechsel miteinander: einatmen – Zehen hoch – ausatmen – Zehen runter – einatmen – Fersen hoch – ausatmen – Fersen runter. Mein Körper wiegt wie die Krenblätter im Wind.
Abschließend stehe ich ruhig und sicher, fest verwurzelt. Meine Konzentration liegt auf meiner Bauchatmung. Langsam richte ich meine Aufmerksamkeit wieder nach außen auf meine Umwelt.
Der Geist aus der Wurzel
Für heute lasse ich die Arbeit Arbeit sein. Auf mich warten ein kühles Getränk, Würstel und natürlich die Wunderwurzel. Ich reiße den Kren, der wehrt sich mit Leibeskräften, Tränen laufen über mein Gesicht und mein Kopf wird frei. Wow – in diesem Exemplar wohnt einen besonders mächtiger Zaubergeist! Würstel, Senf und Kren – das Leben kann so einfach und magisch sein!
Zum Weiterlesen:
Geuter, U. (2019). Praxis Körperpsychotherapie: 10 Prinzipien der Arbeit im therapeutischen Prozess. Berlin: Springer.