Sich bedroht zu fühlen kann schnell gehen. Was danach folgt noch schneller. Ein Wort ergibt das andere, eine falsche Bewegung und unsere Gedanken fahren zuerst Karussell, dann Achterbahn, zum Schluss Geisterbahn. Wie wir gefährliche Situationen bzw. Szenen erleben und gestalten, hängt von unserem persönlichen Handlungsspielraum ab. So kann es in scheinbar gleichberechtigten Beziehungen durch ungleiche Machtverhältnisse auch zu ungleichen Gestaltungsmöglichkeiten kommen. Was passiert, wenn wir uns plötzlich der Gefahr nicht mehr gewachsen fühlen? Wann wird daraus ein Trauma, in dem wir Lebensgefahr empfinden?
In der folgenden Szene berichtet Lisa von einem Streit mit ihrem Partner Stefan. Der ist diesmal richtig eskaliert und zeigt eine (zu häufige) Szene der Gewalt von Männern an Frauen. Auch wenn Lisa vieles rückblickend berichten kann, in der Szene läuft alles „wie von allein“ ab. Zwei wichtige Dinge vorab: Sollten Sie selbst derartig traumatische Erfahrungen gemachten haben, könnte es besser für Sie sein den Text zu überspringen. Stecken Sie derzeit selbst in einer gewalttätigen Beziehung – vertrauen Sie sich jemanden an (wichtige Anlaufstellen finden Sie auf www.gewaltinfo.at bzw. Direkthilfe bei der frauenhelpline 0800 222 555).
„Der letzte Streit zwischen Stefan und mir war richtig heftig. Eigentlich ging es zuerst nur darum, wer mir so spät noch eine Whats-App-Nachricht schickt. Ich habe ihm die Nachricht gleich gezeigt, denn ich weiß, wie heftig er reagieren kann. Ich habe versucht ihn zu beruhigen und ihm gesagt, dass ich ihn liebe. Mir sind sofort die Tränen in die Augen gestiegen. Er ist daraufhin aber richtig aggressiv geworden und hat mich in die Ecke des Schlafzimmers gedrängt. So kenne ich ihn gar nicht! Es erschreckt mich jetzt noch! Er wurde immer wütender und ich habe richtig Angst bekommen. Ich habe ihn angeschrien, dass er mich in Ruhe lassen soll und ihm gedroht! Als er kurz unachtsam war, habe ich versucht aus der Ecke zu fliehen. Da hat er mich beim Genick gepackt und wüst beschimpft. Ich wollte einfach nur noch weg. Ab diesem Zeitpunkt kann ich mich nicht mehr genau erinnern, was passiert ist. Ich bin am Boden gesessen und hab mich gefühlt als wäre ich in Watte gepackt. Irgendwann ist er gegangen und ich bin erst am nächsten Morgen wieder halbwegs bei mir gewesen. Ich habe dann meine beste Freundin Jana angerufen. Die wusste sofort Bescheid und ist gekommen. Als ich die Türe geöffnet habe, bin ich in ihre Arme gefallen und in Tränen ausgebrochen. Sie hat mich getröstet – ich weiß nicht was ich ohne sie tun würde!“
The good – Ich habe Angst! Sieh mich!
Lisa spürt von Beginn an die drohende Gefahr und versucht Stefan nicht in Rage zu bringen – zu gut kennt sie solche Szenen. Ihre aufsteigenden Tränen und das beschwichtigende Liebesgeständnis scheinen ein Ausdruck ihrer Hoffnung auf Verständnis und Nähe bei Stefan zu sein. Sie hofft darauf, dass Stefan ihre Angst bemerkt und entsprechend darauf eingeht. Er könnte sie jetzt einfach in Ruhe lassen, sich entschuldigen oder sogar in den Arm nehmen und trösten. Das würde Lisa ermöglichen wieder Sicherheit mit ihm gemeinsam zu erleben. Doch Stefan geht auf dieses Angebot nicht ein. Er reagiert mit noch mehr Aggression.
The bad – Ich hau dich um! Ich muss hier weg!
Die Unsicherheit von Lisa steigt. Sie muss raus aus der Begegnung, um sich ausreichend sicher fühlen zu können und geht in den Angriff über. Ein kraftvoller Versuch die Szene zu gestalten, sich Platz und Luft zu verschaffen. Sie hat damit aber leider keinen Erfolg. Stefan ist ihr einfach körperlich überlegen. Was bleibt ist ein letzter aktiver Versuch: Flucht. Ihr Ziel ist es dabei so schnell wie möglich weg zu kommen, um die destruktive Begegnung mit Stefan zu beenden. Ein vorübergehender Beziehungsabbruch, um ihre eigene Haut zu retten. Hätte das geklappt, wäre sie durch ihre Handlung noch „mit einem Schrecken“ davongekommen. Doch leider ist die Szene hier noch nicht zu Ende und Stefan lässt nicht von ihr ab.
The ugly- Ich halte still. Ich bin nicht da.
Lisa ist in einer ausweglosen Situation. Die fehlenden Möglichkeiten zum Kampf oder zur Flucht verbinden sich zu einer toxischen Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht. Schließlich erstarrt Lisa und ergibt sich dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Spätestens jetzt beginnt die Szene traumatisch zu werden: Lisa ist in keiner Weise mehr Frau ihrer Lage und empfindet Lebensgefahr. Sie zeigt und erlebt nun einen Zustand, den man in der Psychotherapie als Dissoziation bezeichnet. Eine Art von Ausklinken, Aufspalten, Abtauchen – ins Nirgendwo. Von sich selbst weg, hinein in einen dichten Wattebausch aus Erstarrung, Taubheit, Gefühllosigkeit und Vergessen. Was nun passiert dringt nicht voll zu Lisa durch, gehört später im „normalen“ Alltag irgendwie nicht zu ihr. Und doch ist es da.
„…und doch ist es da.“
Zum Beispiel, wenn sie bei körperlicher Nähe panisch wird und andere von sich wegstößt. Wenn sie Angst vorm Alleinsein hat und von einer gewaltsamen Beziehung in die andere flüchtet. Oder wenn sie sich in schwachen Momenten selbst beschimpft und entwertet. Das Trauma bohrt sich in Lisas Leben, wie feine Glassplitter in eine blanke Fußsohle – auch wenn man sie nicht gleich wahrnimmt, kann man sie doch heftig spüren. Der Abend endet für Lisa traumatisch, der nächsten Tag beginnt zum Glück besser: ihre Freundin Jana hat ein Gespür für ihre Probleme und Sorgen. Sie ist zur Stelle und sieht ihre Not und Verzweiflung. Sie kann Lisa geben, was sie jetzt so dringend braucht: Sicherheit in der Begegnung. Gut, wenn man solche Menschen um sich hat.
Wenn es unerträglich wird
Egal, ob Sie eine behütete Kindheit oder traumatische Erlebnisse hatten, es gibt immer wieder Szenen, in denen Sie sich ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert fühlen. Wichtig ist, dass Sie wieder die Möglichkeit zum Handeln und somit zur Gestaltung der Szenen bekommen. Die Devise heißt: Raus aus der Lethargie und Erstarrung – versuchen Sie sich wieder am ganzen Leib zu spüren! Bewegen Sie sich oder verschaffen Sie sich Ihr persönliches Gefühl von Sicherheit und Schutz.
„Raus aus der Lethargie und Erstarrung!“
Verändern Sie zum Beispiel Ihre Körperposition vom Sitzen ins Stehen oder Gehen, wickeln Sie sich fest in eine Decke und spüren Sie Ihre Grenzen oder nehmen Sie ein warmes Bad mit anschließender Fußmassage. Auch wenn Ihnen diese Dinge als Kleinigkeiten erscheinen – sie führen oft zu einer kleinen, aber wichtigen Veränderung hin zur Aktivität. Sicher kennen Sie auch ein paar Strategien für sich, wenn es mal wieder unerträglich wird und Sie einfach nur wollen, dass es aufhört und alles anders wird.
Sollten Sie unter traumatischen Szenen aus ihrer Vergangenheit leiden, könnte Ihnen eine Psychotherapie helfen. Grundlagen sind hier vor allem die Schaffung einer sicheren Umgebung, eine ausreichende psychosomatische Stabilisierung und die Erweiterung Ihrer Handlungsmöglichkeiten. Die Integration und Aufarbeitung ihres Traumas kann ein weiterer Schritt sein. Im Therapieprozess sind Schutz und Selbstwirksamkeit entscheidend. Im Psychodrama sitzen Sie immer im Regiesessel und bleiben Person Ihrer Lage.
Zum Weiterlesen:
Dana, D. (2018). Sicherheit, Gefahr und Lebensgefahr: Adaptive Reaktionsmuster. In D. Dana (Hrsg.), Die Polyvagal-Theorie in der Therapie: Den Rhythmus der Regulation nutzen. Lichtenau/Westfalen: G.P. Propst Verlag.