Ich bin gegen Social Distancing, denn dieser Begriff lädt zur Einsamkeit ein. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin für den notwendigen körperlichen Abstand in diesen Tagen, aber räumliche Distanz ist nicht gleich sozialer Distanz. Wie fern fühle ich mich manchmal jemandem, der mir direkt gegenübersitzt. Wie nahe jemandem, der meilenweit weg ist.
Mit Opa im Kaffeehaus
Im Psychodrama können Distanzen mühelos überwunden werden. So treffe ich derzeit beinahe wöchentlich meinen Opa. Unverantwortlich sagen Sie? Das stört weder mich noch ihn, denn mein Opa ist im Jahr 1989 leider viel zu früh verstorben. Trotzdem verabreden wir uns regelmäßig zu einem kleinen Plausch. „Opa, kannst du nicht runterkommen auf einen schnellen Kaffee?“
Unser Treffpunkt ist rasch hergerichtet: für mich einen Verlängerten mit einem Glas Wasser, dazu ein kleiner Keks. Mir gegenüber eine alte, leere Wiener Kaffeehaustasse für meinen Opa. Mein Opa ist ein stiller Mann, schon immer gewesen, aber eben da. Einer von jenen Männern, die man eher spürt als hört. Ich erzähle ihm, was sich gerade bei mir so tut. Von den schönen, aber auch schwierigen Dingen. Mein Opa ist 70 Jahre, graue Hose und Pullover, weißes Hemd und dezente Krawatte. Ein Mann, der viele Krisen in seinem Leben durchlebt hat. Am Sessel lehnen seine Krücken, die er wegen seiner Kriegsverletzung braucht. Ich stelle mir meinen Opa so vor, wie er vor mir sitzt. Als würde ich für einen Augenblick in ihn bzw. seine Rolle schlüpfen (das nennt man im Psychodrama einen „inneren Rollenwechsel“). Meine Arme fühlen sich dabei stark an, sie haben ihn 45 Jahre durchs Leben getragen. Wenn er im Rollstuhl gesessen ist, haben mich seine Schultern manchmal als Knirps getragen. Nachdenklich bemerke ich wie nahe ich mich ihm fühle. „Ich würde mich gerne an seine Schultern anlehnen“, fährt es durch meinen Kopf. Etwas wehmütig, aber angenehm berührt, lehne ich mich in meinen Sessel. Etwas Gewicht abzugeben würde mir derzeit wirklich helfen. Ich bin wieder bei mir angekommen.
Physical Distancing ja, Social Distancing nein
Was ich mit dieser Szene sagen möchte: Physical Distancing (räumlicher Abstand) ja, Social Distancing (sozialer Abstand) nein. Denn ich will allen Menschen begegnen, die mir wichtig sind und mir guttun. Egal, ob körperlich anwesend oder nicht. Derzeit finden viele Menschen kreative Wege miteinander in Begegnung zu kommen: Videotelefonie, Chats, analoge Briefe und vieles mehr. Was jedoch, wenn alle „realen Wege“ versperrt sind? Dann bleiben uns noch immer unsere Erinnerungen, und vor allem: unsere Fantasie!
Überlegen Sie für sich: Wen möchten Sie gerne wieder einmal treffen? Wo würden Sie sich mit dem Menschen treffen? Wie würde dieses Treffen ablaufen? Wer weiß, vielleicht begegnen Sie einem verloren geglaubten Menschen schneller als sie noch heute früh gedacht haben. In der psychodramatischen Psychotherapie bietet sich die Bühne großartig an solche Treffen zu inszenieren. Sobald wir uns wieder real treffen können, lade ich Sie herzlich dazu in meine Praxis ein!
Zum Weiterlesen:
Kern, S. & Hintermeier, S. (2018). Psychodrama-Psychotherapie im Einzelsetting. Facultas: Wien.